- Phänomenologie
- Phä|no|me|no|lo|gie 〈f. 19; unz.〉1. 〈bei Kant〉 Lehre von den Erscheinungen im Unterschied zum „Ding an sich“2. 〈bei Hegel〉 Lehre von den Erscheinungen des sich dialektisch aufwärtsbewegenden Bewusstseins bis zum absoluten Wissen3. 〈bei N. Hartmann〉 Beschreibung der gegebenen Erscheinungen als erste Stufe des systemat. Denkens4. 〈bei Husserl〉 Lehre von der „Wesenheit“, der Bedeutung, dem Sinn der Dinge unter Ausklammerung ihrer individuellen Realität, die nur Erscheinungsform ist[<grch. phainomenon „Erscheinendes, sinnlich Wahrnehmbares“ + logos „Lehre“]
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1. (bei Hegel) Wissenschaft, Lehre, die die dialektisch sich entwickelnden Erscheinungsformen des [absoluten] Geistes in eine gestufte Ordnung bringt, die die historisch-dialektische Entwicklung des menschlichen Bewusstseins vertritt.2. (bei Husserl) Wissenschaft, Lehre, die von der geistigen Anschauung des Wesens der Gegenstände od. Sachverhalte ausgeht, die die geistig-intuitive Wesensschau (anstelle rationaler Erkenntnis) vertritt.* * *
IPhänomenologiedie, -, eine von E. Husserl (unter dem Einfluss von F. Brentano) seit 1900 entwickelte Hauptströmung der Philosophie. Gemäß der Grundauffassung, dass jedwede Art von Wirklichkeit zunächst Erscheinung für ein intentionales Bewusstsein (ein zielgerichtetes Bewusstsein von etwas) ist, versteht sich Phänomenologie als Lehre von den im Bewusstsein erscheinenden Gegenständen der Welt. Theoretische und historische Konstruktionen sollen unterlaufen werden, indem Erscheinungen so gefasst werden, wie sie sich zunächst im Erleben geben. Darüber hinaus beschäftigen sich phänomenologische Beschreibung und Analyse auch mit den Weisen des Erscheinens im Bewusstsein selbst, aus denen der erkenntnistheoretischen Sinn von Erscheinungen verständlich zu machen ist. Als methodischer Ansatzpunkt gilt für die frühe phänomenologische Bewegung mit Autoren wie M. Geiger, A. Pfänder, Adolf Reinach (* 1883, ✝ 1917) und M. Scheler die Devise Husserls: »Zu den Sachen selbst«. Scheler nennt die Phänomenologie »eine fortwährende Entsymbolisierung der Welt« (1914).Phänomenologie ist ein Neologismus der Wissenschaftssprache des 18. Jahrhunderts, vorbereitet durch das Wiederaufleben des antiken Terminus »Phänomen« in Philosophie und Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. So benutzte J. H. Lambert »Phänomenologie« als Disziplintitel in seinem »Neuen Organon. ..« (2 Teile, 1764) für die Lehre vom Schein, weil dem menschlichen Geist Wahrheit außer in Zeichen (Semiotik) oft auch nur »unter einem anderen Schein« erfassbar ist. F. C. Oetinger benutzte 1762 (»Philosophie der Alten. ..«, 2 Teile) das Adjektiv »phänomenologisch« im Sinne der beobachtenden Methode, die von gegebenen Erscheinungen auf komplexere Ganzheiten schließt. In Briefen an Lambert und Marcus Herz (* 1747, ✝ 1803) entwarf I. Kant 1770/72 eine Phänomenologie (Phaenomenologia generalis) als Lehre von den Prinzipien und Schranken der sinnlichen Seite des Erkennens. In seinen »metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« (1786) verwendet Kant »Phänomenologie« als Teil der Bewegungslehre, und zwar hinsichtlich ihrer Modalität: Es geht um die Beobachtung von Naturphänomenen (Ruhe und Bewegung) unter Rücksicht auf den konkreten Beobachter. J. G. Herder benutzte (1769/74) »Phänomenologie« im Anschluss an Lambert zur Bestimmung der konkreten Erfahrung des Schönen. Zum Titelbegriff wurde Phänomenologie 1807 in G. W. F. Hegels »Phänomenologie des Geistes«, und zwar im Sinne eines Systems von den Weisen und Stufen, wie der menschliche Geist in der Welt erscheint. Auch Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts wie G. R. Kirchhoff und E. Mach betrieben Phänomenologie als beschreibende Beobachtung der physischen Realität, noch vor deren Erklärung. Für C. Stumpf ist die Phänomenologie eine »neutrale Wissenschaft« (1907), die sowohl den Geistes- als auch den Naturwissenschaften vorausgeht. Der so gefasste Phänomenologiebegriff bedeutet in seiner populären Fassung soviel wie unbefangene Beschreibung des durchschnittlich Gegebenen; »phänomenologisch« heißt dann geradezu »beschreibend«.Seit Husserl wurde der Beschreibungsbegriff entscheidend vertieft im Sinne nachzuvollziehender Strukturierung oder Selbststrukturierung des Erscheinens im Erlebnis- und Erfahrungsprozess. Diesen Prozess als Korrelation von Vollzug (Noesis) und Sinngehalt (Noema) nennt Husserl »phänomenologische Sphäre« (»Ideen. ..«, 1913). Soweit das Bewusstsein als phänomenologische Sphäre selbst einer Wesensbeschreibung (Eidetik) unterziehbar ist, wird von transzendentaler Phänomenologie und transzendentalphänomenologischer Reduktion (auf die reinen Bewusstseinsstrukturen) gesprochen. Dieses transzendentale Bewusstsein wird schon bei Husserl zunehmend differenziert und konkretisiert, z. B. als phänomenologische Konstitutionsforschung (im Hinblick auf objektive Weltgehalte) und als genetische Phänomenologie (im Hinblick auf Typen der Subjektivität). So entfaltet sich eine vertiefte Erforschung der Subjektivität als »Inter-Subjektivität« und der »Lebenswelt« als Form vortheoretischer Weltauffassung mit entsprechenden Reduktionen. Der Beschreibungsbegriff wird bei M. Heidegger zu dem der »Auslegung« umgestaltet und damit zu einer hermeneutischen Phänomenologie (H.-G. Gadamer, P. Ricœur). Die schon bei Husserl in Ansatz gebrachten leiblichen Momente des Bewusstseins (hyletische Felder) werden bei H. Plessner zu einer anthropologischen Phänomenologie ausgebaut, bei M. Merleau-Ponty zu einer Phänomenologie der Inkarnation des Sinnes, bei J.-P. Sartre zum lebendigen Brennpunkt einer negativen Ontologie des Bewusstseins. Die von Husserl thematisierte immanente Zeitlichkeit allen Erlebens ist für die poststrukturale französische Phänomenologie das Motiv, die Möglichkeit der Gegenwart von Sinn zu problematisieren (J. Derrida).Die frühe Phänomenologie gliederte sich in zwei zusammenwirkende Schulen: die Göttinger (ontologisch-deskriptiv) und die Münchener Schule (psychologisch-deskriptiv); seit 1916 entfaltet sich mit Husserls dortiger Lehrtätigkeit die Freiburger transzendental ausgerichtete Phänomenologie. Eine hermeneutische Marburger Phänomenologie, die sich nach 1945 in Heidelberg und Freiburg fortsetzt, entstand seit den 20er-Jahren. Wichtig für die Entwicklung der Phänomenologie in den USA wurden Marvin Farber (* 1901; realistische Richtung), A. Schütz (Sozialphilosophie) und Aron Gurwitsch (* 1901, ✝ 1996; moderne Bewusstseinsphänomenologie). In Deutschland sind die Kölner Schule mit L. Landgrebe, die Freiburger mit E. Fink und W. Marx sowie die Mainzer mit G. Funke zu nennen. Seit 1971 gibt es eine Deutsche Gesellschaft für phänomenologische Forschung, weitere Gesellschaften arbeiten in Österreich, Japan und den USA. - Phänomenologie leistet neben Ontologie, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie zunehmend auch Beiträge zur Wissenschafts- und Kulturkritik. Charakteristisch für die Entwicklungen der Phänomenologie sind ihre mannigfaltigen Beziehungen zu unterschiedlichsten Einzelwissenschaften (z. B. Psychologie, Sozialwissenschaften, Linguistik).E. Husserl: Ideen zu einer reinen P. u. phänomenolog. Philosophie (21922, Nachdr. 1993);L. Landgrebe: Der Weg der P. (Neuausg. 1978);G. Funke: P., Metaphysik oder Methode? (31979);B. Waldenfels: P. in Frankreich (Neuausg. 1987);B. Waldenfels: Einf. in die P. (1992);Profile der P., Beitr. v. E. Ströker u. a. (1989);J.-F. Lyotard: Die P. (a. d. Frz., 1993);K.-H. Lembeck: Einf. in die phänomenolog. Philosophie (1994).Zeitschriften u. Serien: Jb. für Philosophie u. phänomenolog. Forsch., 11 Bde. (1913-30);Philosophy and phenomenological research (Buffalo, N. Y., 1940 ff.);Phaenomenologica (Den Haag 1958 ff.);Phänomenolog. Forsch. (1975 ff.);Husserl-Studies, hg. v. J. N. Mohanty u. a. (1984 ff.);Études phénoménologiques (Brüssel 1985 ff.).IIPhänomenologie,Lehre, die von der »Anschauung« der Gegenstände oder Sachverhalte ausgeht beziehungsweise eine geistig-intuitive »Wesensschau« (anstelle rationaler Erkenntnis) vertritt.* * *
Phä|no|me|no|lo|gie, die; - [↑-logie] (Philos.): 1. (bei Hegel) Wissenschaft, Lehre, die die dialektisch sich entwickelnden Erscheinungsformen des [absoluten] Geistes in eine gestufte Ordnung bringt, die die historisch-dialektische Entwicklung des menschlichen Bewusstseins vertritt; Erscheinungslehre. 2. (bei Husserl) Wissenschaft, Lehre, die von der geistigen Anschauung des Wesens der Gegenstände od. Sachverhalte ausgeht, die die geistig-intuitive Wesensschau (anstelle rationaler Erkenntnis) vertritt.
Universal-Lexikon. 2012.